09.03.2021

Mit den Gletschern schmilzt unsere Zeit

Sachbuch, Erinnerungsroman, Zukunftsvision: Mit Wasser und Zeit  hat Autor und Umweltaktivist Andri Snær Magnason ein sehr persönliches Buch geschrieben, das uns gleichwohl alle betrifft. Nun ist es für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. 

 

Gletscher umgeben von Wasser. Bild von Annie Spratt auf Unsplash.
Die Gletscher schmelzen, warnt der isländische Autor und Umweltaktivist Andri Snær Magnason. © Annie Spratt auf Unsplash.

 

Einst waren Gletscher ein Symbol für die Ewigkeit. Doch nun schmelzen sie, verschwinden für immer wie Okjökull auf Island. Und so sind die gewaltigen Eismassen heute vor allem eines: Mahnung, wie gefährdet Natur und Klima auf der Erde sind.

 

In seinem Buch Wasser und Zeit beschreibt der Schriftsteller Andri Snær Magnason den Klimawandel als eine Geschichte des Wassers, und welcher Ort eignete sich dafür besser als seine Heimat Island, die noch vor 20.000 Jahren vollständig von Eis bedeckt war.

 

Ein Buch, das sich seinem komplexen Thema in ungewöhnlicher Form nähert und durch einen ganz eigenen Ton besticht, einiger Schwächen zum Trotz. Jetzt ist es für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.

 

Magnason ist Literaturwissenschaftler und Autor, hat Kinderbücher und Theaterstücke geschrieben, Lyrik und Romane und immer wieder Sachbücher.

 

Literaturwissenschaftler, Autor - und Umweltschützer

 

Denn der 47-Jährige ist auch Umweltaktivist.

  • Zusammen mit Sängerin Björk organisierte er 2008 das Protestkonzert Náttura.
  • Der Brief an die Zukunft, der sich auf der Gedenktafel für den abgestorbenen Gletscher Okjökull findet, stammt von ihm.
  • 2016 kandidierte er für das Präsidentenamt.

Und so ist Wasser und Zeit ein Sachbuch und doch viel mehr. Es ist Erinnerungsroman und Reisebericht, Erklärstück und Zukunftsvision, enthält Essays, wissenschaftliche Ausführungen, Interviews und Fotos. Ein Buch, das sich lustvoll zwischen den Genres bewegt und doch nur eine Botschaft hat: Es ist Zeit.

 

Denn der Zustand des Wassers auf der Erde wird sich schon bald dramatisch wandeln. Gletscher werden schmelzen, der Meeresspiegel steigt und auch die Erdtemperatur. „Veränderungen, die bislang hunderttausend Jahre brauchten, geschehen jetzt in hundert Jahren.“

 

So nah – und doch so fern. Und genau hier liegt das Problem. „Hundert Jahre empfinden wir als eine ganze Ewigkeit, jenseits unserer Vorstellungskraft. (…) Wir zucken nur mit den Achseln, als ginge uns diese Jahreszahl nichts an.“ 

 

Denn trockene Begriffe wie Gletscherschmelze oder Rekordhitze, Versauerung der Meere oder Treibhauseffekt vermögen die Dramatik des Klimawandels kaum zu vermitteln. „Die Wörter“, sagt Magnason, „scheinen keine direkte Reaktion hervorzurufen. Wir hören Nachrichten und schauen Dokumentarfilme, aber aus irgendeinem Grund verharren wir in unserem Alltagstrott.“

 

Gespräch mit deutschem Forscher gab Anstoß

 

Ein Gespräch über eben diese Fragen gab den Anstoß für das Buch. „Der Mensch versteht keine Zahlen und Diagramme“, sagte der Klimaforscher Wolfgang Lucht aus Potsdam da zu ihm, „aber er versteht Geschichten. (…) Sie müssen Geschichten erzählen!“ 

 

Magnason, der Schriftsteller und Umweltschützer, ließ sich das nicht zwei Mal sagen.

 

Und er fand seine Geschichten in der eigenen Familie, bei den Großeltern, dem Onkel, Vater und Mutter, deren Lebensgeschichten fast wie ein Roman anmuten.

  • Oma Hulda und Opa Árni, die ihre Hochzeitsnacht 1956 auf einer Expedition am Vatnajökull verbrachten und sich noch heute mit Sehnsucht an den „Gletschergeruch“ erinnern.
  • Opa Björn, der als Chefarzt in New York nicht nur Andy Warhol und den Schah von Persien behandelte, sondern auch den Physiker und Atomforscher Robert Oppenheimer.
  •  Björns Schwester Arndís, die als junge Frau in Oxford die Kinder von J.R.R. Tolkien hütete, dessen Herr der Ringe dereinst vor der beeindruckenden Kulisse isländischer Lavafelder spielen wird.
  • Der früh verstorbene Onkel John, der schon als Junge verrückt war nach Reptilien und sich als Krokodilforscher zeitlebens für deren Schutz einsetzte.

Geschichten wie diese durchziehen das gesamte Buch. Und doch sind sie mehr als eine Aneinanderreihung von Anekdoten, denn Magnason geht es stets um sein Thema: die Schönheit der Erde und ihre Gefährdung durch den Menschen.

 

Einige Passagen muten esoterisch an, etwa wenn Magnason mit dem Dalai Lama über Mitgefühl, das Jahrhundert des Friedens und die heilige Kuh spricht, Symbol für Leben und Glück in der isländischen Edda wie der tibetischen Mythologie.   

 

Viele anschauliche Bilder und Vergleiche

 

Stark ist das Buch immer dann, wenn Magnason in Bildern erzählt. „Es wäre interessant, wie die Welt aussähe, wenn jeder die Ölfässer, die er verbraucht, lagern müsste. Unsere Auslandsreisen der letzten zehn Jahre mit der Familie beliefen sich auf hundert Ölfässer. Ich stapele sie im Geist vor meinem Haus.“

 

Anschauliche Beispiele und Vergleiche wie diese gibt es viele. „Bei einem Ölpreis von sechzig Dollar beträgt der Marktwert von hundert Millionen Barrel Öl ungefähr sechs Milliarden Dollar. Wir verbrennen etwa 600 Milliarden Isländische Kronen pro Tag."

 

Manche Schlussfolgerungen, die Magnason zieht, wirken hingegen etwas schlicht: „So viel Geld gibt man nicht einfach kampflos aus der Hand. Es stehen nicht nur Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel, sondern auch gewaltige Summen für Profiteure, die direkten Einfluss auf politische Führungen haben.“ So oder so ähnlich schon oft gehört.

 

Magnason, darf man vermuten, ficht solche Kritik nicht an. Ihm geht es darum, seine Botschaft unter die Menschen zu bringen. Da darf es auch gerne plakativ sein.

 

Begreifen, was auf dem Spiel stehen

 

Schließlich ist auch die Botschaft simpel: Hoffnung für die Gletscher, das Klima und uns Menschen gibt es nur, wenn alle verstehen, was auf dem Spiel steht.  

 

Zu Beginn des Buches hat Magnason seiner Tochter eine Rechenaufgabe gestellt: „Stell Dir mal vor! 262 Jahre! Das ist die Zeitspanne, mit der Du in Verbindung stehst. (…) Deine Uroma bringt dir etwas bei, und du bringst deiner Urenkelin etwas bei. Du kannst direkten Einfluss auf die Zukunft nehmen, bis zum Jahr 2186.“

 

Am Ende des Buches, im Jahr 2102, ist die Tochter 90 Jahre alt, und nun ist sie es, die zu den Enkelinnen spricht: „Stellt euch die Zeitspanne vor. Die Zeitspanne, die ihr mit bloßen Händen berühren könnt. Alles, was ihr tut, ist wichtig, Ihr erschafft die Zukunft an jedem einzelnen Tag.“ Die Botschaft, sie wird weitergetragen.

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Andri Snær Magnason

Wasser und Zeit

Eine Geschichte unserer Zukunft

Insel Verlag Berlin 2020

303 Seiten, mit zahlreichen Fotos



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