11.07.2021

Spurensuche in Island

Als Zweijährige musste Elín Jakobsdóttir mit ihren Eltern vor dem ausbrechenden Vulkan Hekla aus dem Süden Islands fliehen. Die Erfahrung ungezügelter Natur prägt auch ihr Werk. Die Berliner Ausstellung In the First Place folgt den Erinnerungen der Kindheit 

 

Blick vom schwarzen Sandstrand auf das Meer. Bild von Tomasz Tomczak auf Unsplash.
Schwarzer Sandstrand an der Südküste Islands. © Tomasz Tomczak auf Unsplash.

 

Die Spurensuche beginnt mit dem Titel. „In the First Place“ – das meint „zuallererst“.  Wörtlich übersetzt ist es „der erste Ort“ – dort, wo alles begann. Und so ist auch die gleichnamige Ausstellung von Elín Jakobsdóttir in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz eine Rückkehr zu den Wurzeln.

 

Die Stätte ihrer Kindheit - für die in Glasgow und Berlin lebende Künstlerin ist es das Haus ihrer Urgroßeltern in Eyrarbakki im Süden Islands. Ein vertrauter Ort, den die Familie nach dem Ausbruch des Vulkans Hekla 1970 verlassen musste; Elín war gerade zwei Jahre alt.

 

Diese Erfahrung ungezügelter Natur spiegelt sich in ihrem Werk in vielfältiger Weise oder wie es Jakobsdóttir formuliert: „Die Idee, dass das Unbewusste nicht durch das Rationale eingedämmt werden kann“. Und so setzt sie auch ihre Kunst in Beziehung zur Natur, zum Ursprünglichen. 

 

Berliner Ausstellung - Malerei und Film

 

Ihre Arbeiten werden international ausgestellt; sie befinden sich in der Sammlung des Louvre Museums Paris, der Leeds Art Gallery, der Kunstgalerie Stills in Edinburgh und der Glasgow School of Art.

 

In der kleinen, von Christine Nippe mit Sorgfalt kuratierten Ausstellung in Berlin bringt Jakobsdóttir erstmals zwei Stränge ihrer Arbeit zusammen: Malerei und die Beschäftigung mit der Kamera.

 

Da ist zunächst der Film In the First Place, im vergangenen Sommer mit der Super-8-Kamera in Glasgow und an der Südküste Islands aufgenommen – traumähnliche Bilder, in denen Realität und Fantasie zu verschwimmen scheinen.

 

 

 

Wir sehen einen Jungen am Fenster, das auf einen grauen Hof hinausgeht. In der Scheibe erscheinen Gesichter, er zeichnet sie mit Farbe nach. Auf dem Boden liegt eine Leinwand, auf die er eine Figur malt, bis die blaue Farbe den gesamten Stoff ausfüllt.

 

Er rollt sich darin ein, trägt die Leinwand durchs Haus und wirft sie aus dem Fenster, wie einen Sack.

 

Plötzlich ist es ein anderes Haus, nicht in der Stadt, sondern am Rande der Natur, in Island. Der Junge sitzt am Tisch, auf dem Stuhl gegenüber liegt die zerknüllte Leinwand. Wir sehen alte Fotografien, Frauen in traditioneller Tracht, und wieder findet sich die Leinwand auf einem Stuhl, ganz so, als säße sie dort.

 

Wirklichkeit und Traum verschwimmen

 

Der Junge klettert bis zum Dachboden, wirft die Leinwand hinaus – doch der Stoff, er ist immer noch da. Er trägt ihn durch eine Wiese voller Blumen, bis zum Meer, knüllt ihn ins Wasser, breitet ihn aus. Der Stoff und das Meer, Kunst und Natur, Wirklichkeit und Traum – sie gehen ineinander über. 

 

Die Leinwand - sie erhält so eine doppelte, eine widersprüchliche Bedeutung: Sie verkörpert die Last, die wir stets mit uns tragen - und ist zugleich Symbol unserer Träume.  

 

Und so schafft das Eintauchen der Leinwand ins Wasser eine Verbindung zu Jakobsdóttirs Bildern, in denen nur als Umrisse erkennbare Körper in der Farbe zu versinken scheinen.

 

 

Auch die Gemälde nehmen das Motiv des Unterbewussten, des Ineinanderfließens von innerer und äußerer Welt auf.

 

Das Bild Joan and the Whale (2020) zeigt eine weibliche Figur mit gespreizten Beinen, die wie zum Schutz ihre Arme erhebt und in einen blauen Abgrund zu fallen scheint.

 

In The End of Things (2019) stürzt eine nur in Umrissen erkennbare Gestalt kopfüber in dunkles Violett und scheint sich darin aufzulösen, Gedärme, Gehirn - der Körper, er verliert seine Form.

 

Jakobsdóttir lotet Tiefen der Erinnerung aus

 

„In Island habe ich eine große Familie, mit der ich sehr eng verbunden bin. (...) Ich würde sagen, dieses Doppelleben sorgt für eine gespaltene Identität, denn man vermisst die Anwesenheit der Menschen und der Landschaft, aber sie bleiben in einer inneren Landschaft, die man in sich trägt.“

 

In ihren Bildern wie im Film lotet Elín Jakobsdóttir die Tiefen unserer Erinnerung aus und zeigt, gleichsam in doppelter Spiegelung, wie Erfahrungen unser Dasein prägen.

 

Zu der Ausstellung ist eine Publikation mit Texten der Kuratorin sowie der Kunsthistorikerin Eva Scharrer und einem Interview mit der Künstlerin erschienen. 

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Elín Jakobsdóttir

In the First Place

Hrsg. von Christine Nippe

Kerber Verlag Bielefeld 2021

 

95 Seiten, mit zahlreichen Fotos

Ausstellung In the First Place

Schwartzsche Villa

Grunewaldstraße 55, 12165 Berlin-Steglitz

 

04.06. bis 31.10.2021

Mo-So 10 bis 18 h, Eintritt frei

 

Tel.: 030 / 90299 2302

www.kultur-steglitz-zehlendorf.de 



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