30.11.2021

Eine Insel aus Büchern

In seinem Porträt Island. Eine Insel und ihre Bücher streift Autor und Übersetzer Marcel Krueger durch die Jahrhunderte und zeigt uns, welche zentrale Rolle die Literatur für die isländische Identität spielte und wie sie sich mit der Geschichte des Landes verändert hat.

 

Rotgetäfelte Hütte im Schnee am Meer. Foto von Asgeir Pall Juliusson auf Unsplash.
Streifzug durch die Geschichte: "Island. Eine Insel aus Büchern". © Asgeir Pall Juliusson auf Unsplash.

 

Ein Mann ohne ein Buch ist blind, besagt ein isländisches Sprichwort. In seinem literarischen Porträt Island. Eine Insel und ihre Bücher wandert der Autor und Übersetzer Marcel Krueger mit wachem Blick durch die Geschichte des Landes und hat dabei jede Menge Bücher im Gepäck.

 

Krueger, der in Irland lebt und unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, The Guardian und The Daily Telegraph schreibt, sagt von sich selbst, dass er seine Themen auf Reisen und in der europäischen Geschichte findet. Und so zeigt er uns, wie der Kampf um Unabhängigkeit Island über Jahrhunderte prägte und welche wichtige Funktion die Literatur dabei hatte.

 

Schon bei der Besiedlung Islands spielten Geschichten eine wichtige Rolle. Im Ísldendigabók, dem Buch der Isländer, finden sich die Namen und Genealogien der norwegischen Familien, die auf der Nordatlantikinsel eine neue Heimat suchten.

 

Um ihr Zusammenleben zu organisieren, gründeten die Siedler eines der ersten Parlamente der Welt. Das AlÞing, das 930 erstmals zusammentrat, markierte zugleich das Ende der unkontrollierten Landnahme und den Beginn des „Freistaates“.

 

Die Skalden - wandernde Entertainer

 

In diesen Jahren ohne Könige oder Herrscher waren die Skalden die „Popstars der Zeit“ – wandernde „Nachrichtensprecher und Entertainer“, wie Krueger sie nennt, die von Hof zu Hof zogen und stets die letzten Neuigkeiten mit sich brachten. Heute gilt die Skaldendichtung als eine der wichtigsten historischen Quellen für die Geschichte Skandinaviens im Mittelalter.

 

Im 12. Jahrhundert hatte eine Handvoll Bauern das Sagen im Land; die Machtkämpfe entwickelten sich zu handfesten Kriegen – der Beginn der Wolfszeit. In dieser Phase der Unruhe entsteht ein Großteil der berühmten Isländersagas, die das Bild der Insel nachhaltig geprägt haben.

 

Spannend erzählte Geschichten, die noch heute fesseln und längst fester Bestandteil der Popkultur sind, wovon Serien wie Game of Thrones oder Vikings zeugen. Krueger zieht viele solcher Querverweise und macht so die Literatur als zentrales kulturstiftendes Element sichtbar. 

 

Der Bürgerkrieg endete 1262 und mit ihm die isländische Unabhängigkeit. Für mehr als sechs Jahrhunderte ist die Insel eine vernachlässigte Kolonie Norwegens und schließlich Dänemarks; Kraft und Mut ziehen die Menschen aus den alten Sagen.

 

Aufbruch und Wandel bringt erst das 19. Jahrhundert. Freihandel und Selbstverwaltungsrechte beflügeln die Unabhängigkeitsbewegung, die in der Literatur eine Stimme findet. Die Sprache wird zum Ausdruck eines neuen Nationalbewusstseins, und der Blick richtet sich in die Zukunft.

 

Erster Island-Hype im 19. Jahrhundert

 

Damit einher geht eine veränderte Wahrnehmung von außen, wie Krueger zeigt. Die Insel erlebt ihren ersten Hype. Bei Jules Verne beginnt Professor Lidenbrocks fantastische Reise zum Mittelpunkt der Erde am Vulkan Snæfellsjökull , und in Deutschland wird Island zunehmend romantisiert – eine Begeisterung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg bis ins Extrem steigert, als völkische Vereinigungen das „nordische Ideal“ preisen.

 

Mit den gesellschaftlichen Bruchlinien verändern sich auch die Themen der Literatur: Nach der faktischen Unabhängigkeit Islands von Dänemark 1918 bricht eine Blütezeit der isländischen Literatur an, die sich zunehmend von den engen Vorgaben der Sagas und einem verklärten Heimatbild verabschiedet und sich modernen, experimentellen Strömungen öffnet.

 

Islands Eintritt in die Moderne und die Weltliteratur – der Nobelpreis für Literatur 1955 an Halldór Laxness zeugt davon.  

 

Als der Nato-Beitritt 1949 und die Stationierung von US-Truppen die fragile Souveränität erneut infrage stellen, werden die Konflikte auch unter Islands Schriftsteller:innen ausgetragen.

 

Immer wieder verzahnt Krueger so historische Entwicklung, Kulturepochen, Autoren und Werke und legt die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft und Literatur frei. 

 

Krise und kreativer Boom

 

In den 1970er Jahren tritt der kleine Inselstaat international zunehmend selbstbewusster auf. Mit Vigdís Finnbogadóttir steht erstmals eine Präsidentin an die Spitze eines Landes. Im Streit um Fischereirechte setzt sich Island gegen Großbritannien und Deutschland durch. 1986 treffen sich Michael Gorbatschow und Ronald Reagan in Reykjavík zum Gipfel – der Anfang vom Ende des Kalten Krieges.

 

In der Literatur spiegelt sich dieses neue isländische Selbstverständnis wider: Die Autor:innen arbeiten verstärkt an Übersetzungen ausländischer Werke und bringen so die Welt nach Island. 

 

Der Abzug der US-Truppen 2006 läutet den wirtschaftlichen Abschwung ein. 2008 liegt Islands Auslandsverschuldung bei 50 Milliarden Euro. In der Finanzkrise steht das Land vor dem Abgrund.

 

Die ersten isländischen Krimis erscheinen just in dieser Zeit, als die Auswüchse des Kapitalismus Islands Souveränität bedrohen. Nie war der kreative Output größer als in jenen Jahren, und heute ist Island international präsenter denn je.

 

Die Insel ist Sehnsuchtsort für Menschen aus aller Welt und verortet sich selbst im globalen Kontext. Das gilt insbesondere für die Literatur, die sowohl in Nordamerika als auch in Europa ihren Markt findet. Das neue Selbstbewusstsein drückt sich in einem spielerischen Umgang mit der eigenen Sprache und Geschichte aus. Selbstbild und Fremdbild werden lustvoll abgeglichen.

 

Kritischer Blick auf die Gegenwart

 

Doch auch neue Herausforderungen wie die zunehmende Verstädterung und der Klimawandel werden von vielen Künstler:innen thematisiert. Der kritische Blick auf das Island der Gegenwart speist sich auch aus den ernüchternden Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

 

Und so lenkt Krueger den Blick auf Kontinuitäten und Brüche in der isländischen Geschichte, die sich auch in der Literatur  widerspiegeln.

 

Das Nebeneinander von Tradition und Moderne, Mythologie und Fortschrittsglaube – sie machen Islands Identität aus, die sich über Jahrhunderte durch Aneignung, Reibung und Abgrenzung herausgebildet hat, wie Krueger in seinem Buch unterhaltsam und mit großer Sachkenntnis zeigt. Eine Literaturgeschichte, die ihren Namen verdient.

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Marcel Krueger

Island

Eine Insel und ihre Bücher

Reclam Verlag Ditzingen 2021 

224 Seiten



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