25.04.2023

Erschütterung der Seele

Mit Großes Beben ist der isländischen Schriftstellerin Audur Jónsdóttir eine berührende Familiengeschichte gelungen. Nach einem epileptischen Anfall leidet Saga unter Gedächtnisverlust. Nach und nach kehrt die Erinnerung zurück, und nichts ist mehr, wie es war.

 

Frau sitzt am Autofenster und schaut auf die Landschaft. Bild von Becca Tapert auf Unsplash.
In "Großes Beben" von Audur Jónsdóttir verschwimmen Traum und Wirklichkeit. © Becca Tapert auf Unsplash.

  

„Wie heißen Sie?“ Eine Frage, auf die sie keine Antwort weiß. Nach einem epileptischen Anfall ist Saga auf dem Bürgersteig aufgewacht. Ihr dreijähriger Sohn ist verschwunden – und mit ihm die Erinnerung.

 

Wie ein Puzzle muss die junge Mutter in den folgenden Tagen die Vergangenheit neu zusammensetzen – und hilflos erfahren, dass nichts so ist, wie sie geglaubt hat.

 

Vom Vater ihres Sohnes lebt sie getrennt, sie hat Schulden, die Krankheit ihres Kindes und ihre eigene überfordern sie.

 

Nach und nach kehrt ihre Erinnerung zurück, und mit ihr ein lange verdrängtes Kindheitstrauma: der Tod ihrer kleinen Schwester, über den in der Familie nie gesprochen wurde und der doch ihrer aller Leben geprägt hat.

 

Audur Jónsdóttir, Jahrgang 1973, zählt zu den wichtigsten isländischen Schriftstellerinnen der jüngeren Generation. Mit Großes Beben hat sie die berührende Geschichte einer Frau vorgelegt, die ohnmächtig mitansehen muss, wie ihr bisheriges Leben aus den Fugen gerät.

 

Auf den Spuren einer unzuverlässigen Erzählerin

 

Der Familienroman war für den Isländischen Literaturpreis nominiert und wurde verfilmt. Jetzt liegt der Roman in der Reihe btb Selection erstmals auf Deutsch vor.

 

Jónsdóttir, Enkelin des isländischen Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness, hat sich bereits mit Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt und Wege, die das Leben geht einen Namen gemacht.

 

Auch für Sagas Verwirrung findet sie ihren ganz eigenen Stil – souverän übersetzt von Tina Flecken: Gedankenströme der Ich-Erzählerin wechseln sich ab mit Tagträumen und Selbstgesprächen, dazwischen Dialoge und Handlungselemente.

 

Mit der jungen Mutter hat Jónsdóttir eine unzuverlässige Erzählerin erschaffen. Mehr als einmal stellt sich die Frage, wie glaubwürdig Sagas Schilderungen sind.

 

Immer wieder scheinen Realität und Traum zu verschwimmen – bis zum großen Beben, das dem Buch seinen Titel gab.

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

 

 

Audur Jónsdóttir 

Großes Beben

btb Verlag 2022

384 Seiten



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