25.01.2021

Bodenloser Hass

Im vierten Teil ihrer erfolgreichen Serie um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja greift Islands Krimi-Star Yrsa Sigurðardóttir ein brisantes soziales Thema auf - und lässt uns in einen Abgrund aus Ignoranz und Verachtung blicken.

 

Blick von Klippen auf Meeresbrandung. Bild von Quinn Nietfeld auf Unsplash.
Blick in Abgründe: Yrsa Sigurðardóttirs neuer Thriller. © Quinn Nietfeld auf Unsplash.

 

Der Tote baumelte an einem Felsvorsprung, in Sichtweite zum Präsidentensitz. Die Aufregung ist groß, als die Leiche gefunden wird, denn just an diesem Tag ist eine chinesische Delegation zu Besuch.

 

In der Wohnung des Ermordeten wird ein kleiner Junge entdeckt. Der Vater des Kindes ist ebenso verschwunden wie die hochschwangere Mutter. Eine Familientragödie, ein Unfall oder ein Verbrechen? Die Zeit drängt für das Ermittlerteam.

 

Abgrund ist nach DNA, SOG und R.I.P. der vierte Teil der Serie von Yrsa Sigurðardóttir um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja. Die Idee, einen Polizisten und eine Psychologin gemeinsam ermitteln zu lassen, ist bestechend; doch hier funktioniert sie nur bedingt.

 

Das liegt nicht zuletzt daran, dass beide ihre Nachforschungen weitgehend unabhängig voneinander betreiben. Hier hätte man sich mehr gemeinsame Szenen gewünscht.

 

Thema, das keine Ablenkung verträgt 

 

Überhaupt bleiben die Hauptfiguren merkwürdig blass. Facettenreicher sind da schon einige der Nebenfiguren: die zuweilen übereifrige Polizeianwärterin Lína, die stets übel gelaunte Kommissariatschefin Erla, Huldars missgünstiger Kollege Jóel. 

 

Das mag auch dem Thema geschuldet sein, das Yrsa Sigurðardóttir in ihrem Buch aufgreift und das keine Ablenkung verträgt: Gewalt gegen Frauen. Sie zeigt sich hier in ganz unterschiedlicher Form – ein Abgrund aus Ignoranz und Verachtung.

 

Arne Dahl schrieb einst über seine Schriftsteller-Kollegin: „Yrsa Sigurðardóttir hat mit ihren groß angelegten (…) Geschichten versucht, den Kern von Islands unverwechselbarer Gesellschaft zu finden“.

 

Und in der Tat erfahren wir viel über das Land und seine Menschen.

 

Die seelenlose Wohnung, in der das Opfer lebte; das dunkle Kellerbüro des Hausmeisters und die triste Notunterkunft, in der der kleine Junge vorübergehend in Obhut genommen wird – Sigurðardóttir beschreibt ein Island, das gegensätzlicher nicht sein könnte und so gar nichts mit den Hochglanzbroschüren der Tourismuswerbung zu tun hat. 

 

Untersuchungen gestalten sich mühselig

 

Indes erweisen sich die Untersuchungen als mühselig. Die Freunde des Opfers scheinen mehr zu wissen, als sie zugeben. Aus Angst oder weil sie selbst in den Fall verwickelt sind?

 

Die Polizisten tappen im Dunkeln. Es sind keine spezialisierten Sonderermittler, sondern ganz normale Kripobeamte mit Stärken und Schwächen, und das macht sie sympathisch.

 

Sigurðardóttir ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, deren Bücher in mehr als 30 Ländern erschienen sind. Die britische Tageszeitung The Times zählt sie zu den „besten Kriminalautorinnen der Welt“. Und so fesselt die Handlung gleichwohl bis zur letzten Seite, die mit einer überraschenden Wende endet.

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Yrsa Sigurðardóttir

Abgrund

btb Verlag München 2020

396 Seiten

Alle Bände der Reihe:

Band 1: DNA, btb Verlag München 2017, 512 Seiten.

Band 2: SOG, btb Verlag München 2019, 464 Seiten. 

Band 3: R.I.P., btb Verlag München 2020, 464 Seiten. 

Band 4: Abgrund, btb Verlag München 2020, 400 Seiten.



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