27.03.2022

Liebesbrief aus Island

Als alter Mann erinnert sich Bjarni an seine große Liebe, die er einst gehen ließ. Nun schreibt er eine Antwort auf den Brief von Helga - und rechnet schonungslos mit dem Leben ab. Bergsveinn Birgissons berührender Briefroman liegt jetzt in einer Neuübersetzung vor.

 

Eine Frau steht vor einer isländischen Gebirgskette. Bild von Agnieszka Bednarz auf Unsplash.
Ein Körper wie eine Landschaft: Liebe und Leidenschaft in "Antwort auf den Brief von Helga". © Agnieszka Bednarz auf Unsplash.

 

Es ist eine Liebeserklärung und ein Abschiedsbrief – vom Leben und von einer Lüge, die ihn so viele Jahrzehnte begleitet hat. Im Angesicht des Todes schreibt Bjarni Gíslason an seine einstige Geliebte Helga. Vor vielen Jahrzehnten waren sie zusammen. Doch als Helga schwanger wird und mit ihm in die Stadt ziehen will, entscheidet er sich gegen eine gemeinsame Zukunft.

 

Jetzt ist seine Frau Unnur tot, und der Neffe hat ihn aus dem Altersheim geholt, damit er den letzten Sommer in der Heimat verbringen kann. Von seinem Zimmer aus blickt Bjarni auf den Nachbarhof, in dem einst Helga mit ihrem Mann Hallgrímur wohnte, und die Erinnerungen kehren zurück.

 

In seiner Antwort auf den Brief von Helga versucht der alte Mann zu ergründen, weshalb er sich einst gegen eine Leidenschaft entschied, die ihn doch niemals losgelassen hat.

 

Der Steidl Verlag hat das 2010 in Island veröffentlichte Buch von Bergsveinn Birgisson anlässlich des Ehrengastauftritts bei der Frankfurter Buchmesse unter dem Titel Paarungszeit aufgelegt. Nun, zwölf Jahre nach der Erstveröffentlichung, ist es im Residenz Verlag unter dem Originaltitel in der Neuübersetzung von Eleonore Gudmundsson erschienen.

 

Ein Körper wie eine Landschaft

 

Ohne Scham erinnert sich Bjarni nach Jahrzehnten an seine Lust und an Helgas Körper, der einer Landschaft gleicht. Und wie er die Täler und Hügel seiner Heimat liebt, so begehrt er auch diese Frau, die so anders ist als seine – impulsiv, sinnlich und warm.

 

Erst sind es nur Gerüchte in der Nachbarschaft. Beim Schafabtrieb sind beide zufällig gemeinsam aus den Bergen gekommen. Mehr war da nicht. Doch schon bald fühlt sich der Bauer zu der attraktiven Helga hingezogen, und die beiden beginnen eine Affäre.

 

Aber als die Geliebte ihn vor die Entscheidung stellt, bleibt Bjarni bei seiner Frau, die ihn braucht und mit der er Mitleid hat. Nach einer missglückten Operation kann Unnur keine Kinder mehr bekommen. Arbeit ist für die strenge, vom Leben enttäuschte Bäuerin seither das Wichtigste. Emotionen lässt sie nicht zu. Und so ist Bjarni der, „der nicht gegangen ist, der die Schufterei statt der Liebe gewählt hat“.

 

Beruflich ist er erfolgreich. Zufrieden damit, „das Ergebnis meiner Hände Arbeit“ zu sehen. „Mich selbst aufzugeben, mein Land und meinen Hof, der ich selbst war, das konnte ich nicht.“

 

Der Brief ist Erklärung, Rechtfertigung – und leidenschaftliche Gesellschaftskritik. „Erst wenn die Menschen ihrer eigenen Geschichte den Rücken zukehren, dann werden sie unbedeutend.“

 

Das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne prägt Islands Weg vom rückständigen, bettelarmen Land zur progressiven Wohlstandsinsel – ein Thema, das alle Werke von Birgisson durchzieht. Wenn sich der Bauer Gedanken über Fortschritt und Wandel macht, dann ist es der Autor, der zwischen den Zeilen spricht.

 

Das ist nicht immer überzeugend. So erscheint der Erzähler überaus reflektiert und hat wenig von dem einfachen Bauern, den der Autor im Sinn hat. Zuweilen wirkt das ungewollt komisch, etwa wenn Bjarni seine Geliebte mit einem Traktor vergleicht. Ein verliebter Tölpel, dem beim Anblick der begehrten Frau die Worte fehlen – das ist nicht der Mann, der vor unseren Augen auf 140 Seiten schonungslos sein Leben seziert. 

 

Doch Birgisson geht es um den Gegensatz zwischen der seelenlosen Großstadt und dem einfachen, naturnahen Leben auf dem Land, und dem muss sich auch die Geschichte gelegentlich unterordnen.

 

Mehr Fragen als Antworten

 

„Liebe“, sagt Bjarni rückblickend, „ist nicht nur diese Romantik, die eine Richtige zu finden. Liebe ist auch in diesem Leben, das ich hier auf dem Land gelebt habe.“ Eine Wahl treffen, zu seinen Entscheidungen stehen – auch wenn das bedeutet, auf eine geliebte Frau und das gemeinsame Kind zu verzichten.

 

„Der Weg, den ich bis dorthin gegangen war, teilte sich nun in zwei Wege. Ich ging sie beide. Und dennoch keinen richtig, weil ich den einen ging, aber all mein Sinnen stets auf der anderen Seite war. Bei Dir.“

   

Die Einsamkeit versucht er mit Arbeit und Alkohol zu betäuben. Als er von Helgas Scheidung erfährt, eilt er zu ihr. Doch da ist schon ein neuer Mann an ihrer Seite; sie beschimpft ihn und wirft ihn hinaus.

 

Ruhe findet Bjarni erst, als Helga ihm eines Tages schreibt und ihre Liebe gesteht. „Diese Gewissheit, dass es dort drüben diese Wärme gab, war mehr als genug.“ Und an sie, die einzige Vertraute, wendet er sich am Ende seines Lebens.

 

Sein Brief an die Geliebte enthält mehr Fragen als Antworten. Was ist Glück und was das richtige Leben? Was wiegt schwerer – Liebe oder Herkunft und Heimat, Leidenschaft oder Loyalität und Verantwortung? Die Zeilen des alten Mannes erzählen von der Trauer um eine unerfüllte Liebe und der Einsicht, dass es auch ein Stück Selbstaufgabe ist, den eigenen Gefühle nicht nachzugeben.

 

Die Liebe, sie kennt keine einfachen Antworten.

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

 

 

Bergsveinn Birgisson

Antwort auf den Brief von Helga

Residenz Verlag Wien / Salzburg

144 Seiten



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