Dunkler Liebesroman aus Island

Jón Kalman Stefánsson zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Mit Ástas Geschichte hat er einen überwältigenden Roman über die Liebe und ihr Scheitern vorgelegt. Ein Buch über die Zeit, die vergeht - und mit ihr die Hoffnung auf ein anderes Leben.

 

Zerwühlte Bettlaken. Bild von Free-Photos auf Pixabay.
Die Liebe ist unzuverlässig wie die Erinnerung. © Free-Photos auf Pixabay.

 

Ásta ist ein Kind des Glücks. Das sagt schon ihr Name: ást heißt auf Isländisch Liebe, und voller Geborgenheit und Wärme soll ihr Leben sein. Helga ist knapp 19, als sie schwanger wird, Sigvaldi zehn Jahre älter. Die beiden scheinen füreinander geschaffen, doch zusammen passen sie nicht. Und so beginnt Ástas Geschichte mit der Erfahrung, dass auf Gefühle kein Verlass ist.

 

Jón Kalman Stefánsson zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands, und mit diesem Buch hat er einen überwältigenden Roman über die Liebe und ihr Scheitern vorgelegt. Ástas Geschichte erzählt von einer Familie, die es nicht mehr gibt – und die doch prägt, selbst wenn sie abwesend ist.

 

Der sinnlichen Helga wird das Leben an der Seite des gehemmten Fischers schnell zu eng. Sigvaldi kann die Frau, die er mit allen Fasern liebt, nicht halten. Helga verlässt die Familie, Die beiden Kinder kommen zu Pflegeeltern. Die Liebe – sie hat von nun an keinen Platz mehr in Ástas Leben.

 

Nicht, weil es sie nicht gibt. Doch Nähe und Zuneigung lässt das Mädchen nicht zu. Die herzensgute Ziehmutter wird von Ásta zurückgestoßen; sie schämt sich für sie, weil die Mitschüler über sie lästern. Als sie nach einem heftigen Streit in der Schule zur Besserung in die Westfjörde geschickt wird, begegnet ihr Jósef, ein Außenseiter wie sie. Doch erneut traut Ásta ihren Gefühlen nicht.

 

Späte Erinnerung an das Glück

 

Nach dem Sommer trennen sich ihre Wege. Erst Jahre später wird sie die Erinnerung an das Glück dieser Tage einholen; doch da ist Jósef schon tot, verzweifelt an seiner Liebe.

 

Zurück in der Stadt, arbeitet Ásta für eine Zeitungsredaktion. Ein Kollege lässt sich von ihrer Schönheit verführen, bereit, seine Verlobung für sie aufzugeben. Und Ásta? „Drei Kinder möchte sie haben. Das wird das schönste Leben auf der Welt."

 

Doch wenig später weist sie ihn zurück, ohne Erklärung, einfach so. War es ein Spiel, ein Fehler oder Angst? Als sie ihn Monate später aufsucht, um ihm von der Schwangerschaft zu berichten, begegnet sie keiner Liebe mehr, nur noch Hass.

 

Nach der Geburt des Kindes geht Ásta nach Wien, um zu studieren; die Tochter bleibt bei Sigvaldi, ihrem Vater, und dessen zweiter Frau. Und so wiederholt sich die Geschichte.

 

Auch Ástas Mutter war einst schön und verehrt, hatte einen Mann, der sie liebte, und zwei kleine Töchter. Doch sie gab all das auf, und jetzt mit 50 ist sie ein Wrack, zerstört von zu viel Alkohol und ungelebten Träumen.

 

Wie die Mutter lässt Ásta ihr altes Leben hinter sich. In Wien beginnt sie ein Verhältnis mit ihrem Literaturprofessor, der ihr eigentlich zuwider ist. „Wohin geht man, wenn es keinen Weg aus der Welt gibt?“, lautet der Untertitel des Romans. Ásta, sie ist längst vom Pfad abgekommen.

 

„Und mit zwanzig, woraus besteht das Leben da, wenn nicht aus lauter Möglichkeiten? Doch nach einem guten halben Jahr begeht sie einen Selbstmordversuch.“

 

Die Erinnerung ist unzuverlässig wie die Gefühle

 

Die Ruhelosigkeit der Hauptfigur findet ihre Entsprechung in der Erzählstruktur des Romans. Nicht immer ist klar, wer gerade berichtet. Erst nach einiger Zeit lassen sich unterschiedliche Erzählstränge ausmachen. 

 

Mal lesen wir Ástas Briefe an einen Unbekannten, mal ist es ein Schriftsteller, der ihre Geschichte erzählt, und dann wieder Sigvaldi, der Vater, der bei Malerarbeiten von der Leiter gestürzt ist.

 

Am Boden liegend, erinnert er sich an die Tochter und deren Mutter, die ihn vor 30 Jahren verlassen hat. Die Geschichte erzählt er einer jungen (oder alten?) Frau, die ihm zu Hilfe geeilt ist. Über Stunden liegt er dort oder sind es doch nur Minuten?

 

Die Erinnerung, sie ist unzuverlässig wie die Gefühle.

 

Auch der Roman springt zwischen den Zeiten hin und her. Die Geschichte beginnt in den 1950er Jahren und umspannt ein halbes Jahrhundert, chronologisch erzählt ist sie nicht. „Es lässt sich nicht erzählen, ohne sich zu verirren, ohne fragwürdige Wege zu beschreiten, ohne umzukehren, nicht nur einmal, sondern mindestens zweimal, denn wir leben gleichzeitig in allen Zeiten“, räumt der Erzähler ein.

 

Und so ist das Buch auch eine Reflexion über die Zeit. Die Zeit, die keine Wunden heilt. Die vergeht und mit ihr die Hoffnung auf ein anderes Leben.

 

Wer also ist schuld, wenn ein Leben nicht gelingt? Der Roman erzählt von Entscheidungen, die Weichen stellen, für uns und für andere. Liebe allein, das zeigt Ástas Geschichte, ist nicht genug. Man muss das Glück auch wollen. 

 

 

Text: Nicole Maschler

 

 

Jón Kalman Stefánsson

Ástas Geschichte

Wohin geht man, wenn es keinen Weg aus der Welt gibt?

Piper Verlag München 2019

459 Seiten